Vegan ist „in“ – die Medien berichten über vegane Ernährung rauf und runter. Viele Facebook-Seiten, auf denen Veganismus kritisiert wird oder es um Würste und Fleisch geht, werden mit einem Shitstorm empörter Veganer überzogen.
Als Gründe, weshalb mehr und mehr Menschen den Fleischkonsum verweigern, werden oft Tierschutzethik und Fleischskandale genannt und die „Massentierhaltung in der Agrarindustrie“ dafür verantwortlich gemacht. Biobauern unter den Tierhaltern wurden bislang nicht damit in Verbindung gebracht. (Ich erspare uns vorerst in diesem Beitrag, auf die Unterschiede zwischen Bio und konventioneller Haltung einzugehen. Schwarz-Weiß-Denken aufzubrechen ist aufwändig. Wird später nachgeholt.)
Im Frühjahr 2014 hat sich Derik Meinköhn, Grafiker beim Magazin Stern, über 60 Tage lang vegan ernährt – und will schließlich Veganer bleiben. Mit welcher Logik er zu diesem Schluss kommt, zeigt beeindruckend, wie rational die Diskussion um Ernährung geführt wird…
Viele Umsteiger auf vegane Ernährung kauften zuvor schon bewusster ein, z.B. Bioprodukte. Auch Derik Meinböhm kaufte nach eigenen Angaben bisher meist Bioprodukte und Biofleisch „Doch selbst dabei beschlich mich das Gefühl, Massentierhaltung zu unterstützen“, sagt er in dem abschließenden Videobericht.
Nun will er nach dem 60 Tage-Test dauerhaft bei veganer Ernährung bleiben – und die Biobauern haben wieder einen Kunden weniger. Viele Leser seiner Artikel werden ihm sicherlich folgen. Allein dieser Video wurde rund 3.000 mal auf Facebook geliked.
Wenn aber „Stammkunden“ von Bioprodukten aus tierethischen Aspekten auf tierische Produkte verzichten wollen, habe ich ein Verständnisproblem:
- War der Umsteiger doch kein Stammkunde bei Biofleisch? Die Selbsteinschätzung des Kaufverhaltens bei Bioprodukten [PDF] hat mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun.
- Es soll mit dem Fleischverzicht doch gegen die „industriellen“ Haltungsbedingungen in der Landwirtschaft protestiert werden. – Also sind Biobauern auch „industrielle Massentierhalter“?
- Vegane Ernährung ist nicht billig – also ist Geld vorhanden, höherpreisige Lebensmittel zu kaufen.
Ergo: Selbst Bio-Fleisch ist nicht mehr gut genug. Biobauern quälen ihre Tiere ebenso wie konventionelle Landwirte.
Als ob Biobauern nicht schon genug Ärger hätten, ihr Fleisch auf dem Markt abzusetzen. Auch am Ende dieser WDR-Sendung musste ein Biobauer eingestehen, dass mehr als ein Viertel seines erzeugten Rindfleisches nicht zu Preisen für Biofleisch absetzbar ist.
Den Trend zu mehr veganer Kost werden somit auch die Biobauern ausbaden müssen – obwohl die von Umsteigern angeführten tierethischen Argumente bei diesen eigentlich nicht gelten durften. Wenn Biobauern aber auch ihre Tiere quälen, „in Massen“ halten: Was unterscheidet diese dann von „industriellen Massentierhaltern“? – Oder geht es um etwas ganz anderes?
Zuletzt freuen sich im Schatten des veganen Ernährungstrends neue (industrielle) Anbieter für vegane Fertigkost und in vielen Produkten findet man eine Menge an Zusatzstoffen. Bequemlichkeit schaltet Gehirn aus.
Die informelle Kluft wächst und wächst
Historisch betrachtet hatte das städtische Bürgertum schon immer eine gewisse Arroganz gegenüber der ungebildeten ländlichen Bevölkerung. Ich habe daher den Eindruck, dass die Diskussion über Tierhaltung (und auch über Anbaumethoden) oft von einer ganz anderen Ebene herab geführt wird: Wer einen Traktor von einem Lastwagen unterscheiden kann, fühlt sich schon berufen, qualifiziert über die modernen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden zu urteilen.
Sicher sehen Kühe auf der grünen Wiese immer glücklich aus, doch woher wollen Menschen es wissen, wie es den Tieren in den Ställen geht, obwohl sie noch nie einen heutigen Laufstall von innen gesehen haben? Und wer kennt das Problem des Parasitenbefalles bei Freilandschweinen?
Landwirtschaft ist heute produktiver und damit komplizierter geworden. Die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung hat aber den informellen Anschluss an diese Branche verloren. Ebenso hat allerdings auch die gesamte Agrar- und Ernährungsbranche mit dazu beigetragen, diese Kluft zwischen Image und Wirklichkeit wachsen zu lassen:
- Die Werbung der Ernährungswirtschaft trägt mit idyllischen Bildern zum falschen Image einer eigentlich nicht zeitgemäßen Landwirtschaft bei.
- Ferienhöfe, die vom Tourismus leben, halten Tiere nicht als Haupterwerbszweig, sondern als Streichelzoo für ihre Gäste. Diese glauben jedoch, „so ist Landwirtschaft“.
- Und schließlich: Der technische Fortschritt im Pflanzenbau und Tierhaltung bewegt sich inzwischen in einem nicht nur für Laien kaum mehr erklärbaren Grenzbereich.
Die moderne Landwirtschaft muss sich heute verstärkt der Diskussion mit der Gesellschaft stellen: Wo sind die Grenzen beim technischen Fortschritt? Welche Produktionsmethoden sind noch vermittelbar? Und das ist auch gut so.
Der Verbraucher (und Journalist) kann sich jederzeit selbst bei einem Landwirt über die Art und Weise der Tierhaltung oder des Ackerbaus informieren – und nicht allein auf Berichte Dritter vertrauen.
Eine Liste von Betrieben in Deutschland, die dieses Jahr einen „Tag-des-offenen-Hofes“ veranstalten, findet man unter www.offener-hof.de.
Und im Internet kann man lesen, was LandwirtInnen „twittern“: twitter.com/rainer_winter/lists/LandwirtInnen
Oder man nimmt gar an einem Chat auf Twitter teil: unter twitter.com/AgChatDE
Auch auf Facebook finden sich viele landwirtschaftliche Betriebe, die öffentlich von ihrer täglichen Arbeit berichten oder Stellung zu Medienberichten geben.
Also Leute: trefft euch und redet miteinander!
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