Jan Grossarth: Die Vergiftung der Erde

Die Vergiftung einer Debatte – eine Rezension in fünf Akten

Jan Grossarth: Die Vergiftung der Erde (Campus-Verlag, 512 Seiten)

Jan Grossarths neues Buch mit dem Untertitel „Metaphern und Symbole agrarpolitischer Diskurse seit Beginn der Industrialisierung“ ist seine Dissertation, also eine wissenschaftliche Veröffentlichung. Solche Arbeiten taugen in der Regel ja nicht gerade als Thriller für schlaflose Nächte, aber dieses Buch zieht einen dennoch in den Bann: Es ist darin ein Drama in fünf Akten versteckt. Für viele Landwirte und Landwirtinnen sind die vergangenen Jahre auch ein Drama: Die mediale und gesellschaftliche Kritik an den Produktionsweisen konventioneller Landwirtschaft nimmt ständig zu, sie fühlen sich inzwischen als die Prügelknaben der Nation. Bauernkinder in Schulen sind häufig Mobbing ausgesetzt. Und die Politik steht scheinbar still. 

Dr. Grossarth geht diesen Fragen in seiner Literaturrecherche der „ökologischen Krisenpublizistik“ nach: Wer redet in den umwelt- und agrarpolitischen Diskursen vom Gift, warum und in welchem Zusammenhang? Welche Funktion hat der Begriff? Und welche Begründung und Berechtigung? In welchem kulturhistorischen Kontext wird der Begriff „Gift“ mit welcher Bedeutung eingesetzt? Ziel der Arbeit war, die verschiedenen Symboliken und politischen Metaphern zu entschlüsseln, um nicht nur die kulturhistorischen Bestandteile aufzuzeigen, sondern auch zu welchem Zweck diese in Umweltdebatten eingesetzt werden. Weil die elektronischen Archive der Tageszeitung „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ bis in die 40er Jahre zurück digital archiviert sind, wurden diese in der umfangreichen Literaturrecherche berücksichtigt. „DER SPIEGEL“ wurde aufgrund von Ähnlichkeiten zu „DIE ZEIT“ und die „Süddeutsche Zeitung“ wegen des erst ab 1992 vorliegenden Archivs nicht systematisch mit einbezogen.

„[Die Studie] …untersucht vielmehr die Deutungen des Geschehens – und zwar vor allem die impliziten Interpretationen der agrarindustriellen Revolution qua Metapher in journalistischen und publizistischen Quellen.“

Die Arbeit schildert auch, wie sich die Landwirtschaft in den letzten anderthalb Jahrhunderten verändert hat, und mit welcher bildhaften Sprache es ihre Kritiker schafften, Gehör zu finden, Massen zu mobilisieren und schließlich Politik zu machen. Protagonist ist die „industrialisierte, chemisierte Landwirtschaft“, der in jedem Akt – bzw. Epoche – Kritik entgegenkommt, insbesondere mit bildlichen Begriffen: Metaphern. Die Wandlung der Sprache der Kritiker im Zeitverlauf ist der Handlungsstrang, der wiederum spannende Verknüpfungen und Verschlingungen zwischen den Epochen aufweist.

Der Prolog: Gift in allen Variationen

Zu Beginn seiner Arbeit, bis einschließlich Kapitel 3, erklärt Jan Grossarth den wissenschaftlichen Ansatz seiner Arbeit. Auch die Vieldeutigkeit des Begriffes „Gift“ wird umfangreich dargelegt: Als ein Geschenk, das tödlich abhängig macht, als Symbol, als Mordmittel, als Toxikum in der Ernährung. Nach der Lektüre weiß der Leser, wie vielfältig der Begriff Gift in der Literatur eingesetzt wurde. Mit diesem Teil aber das Lesen des Buches zu beginnen, ist dramaturgisch nicht zu empfehlen: spannend wird es ab Seite 135.

Erster Akt (Exposition): Industrialisierung der Landwirtschaft

Ab dem Kapitel 4 beginnt – dramaturgisch betrachtet – der erste Akt, die „Exposition“: Grossarth stellt klar, dass er die Verwendung des Begriffes „Gift“ ausschließlich im Umfeld des agrarpolitischen Diskurses analysiert und schildert für den Leser die „Wirtschaftsgeschichte der agrarischen Industrialisierung“. Protagonisten des agrarchemischen Fortschrittes treten auf die Bühne: Der Erfinder der Harnstoff-Synthese, Friedrich Wöhler, liefert für Justus Liebig um 1840 die Basis, um die Landwirtschaft von der Abhängigkeit und Beschränkung rein organischer Düngekreisläufe zu entkommen – und bringt die Landwirtschaft damit in die nächste Abhängigkeit von Mineraldünger, der durch fossile Energieträger industriell hergestellt wird. Zu Liebigs Zeiten wurde aus den Kolonien organischer Guano-Dünger importiert. Nachdem die Forschung von Fritz Haber und Carl Bosch es ermöglichten, die Ammoniaksynthese in großindustriellem Maßstab durchzuführen, „[gelingt es], einen steigenden Anteil einer stark wachsenden Weltbevölkerung zu ernähren, und den Pro-Kopf-Fleischkonsum zu erhöhen.“ Zugleich verstädtert die Bevölkerung und die Nahrungsmittel wachsen „auf einem Nährboden von Erdöl und […] Kohle.“ „Die Agrargifte“, so Grossarth, „machen [in einem vielseitigen Sinne] nicht nur satt, sondern auch abhängig.“ Diese Abhängigkeit wird später der größte Nährboden für Kritiker der „industrialisierten Landwirtschaft“ – wobei heute wohl niemand die Arbeitsbedingungen um 1900 in der Landwirtschaft als industriell bezeichnen würde als die Abhängigkeit schon bestand. Zugkraft auf dem Acker stellten vorwiegend noch Pferde und Ochsen bereit. Die Kritik an der energetischen Abhängigkeit bei der Herstellung von Düngemitteln erweist sich aber – metaphorisch gesprochen – als das älteste Pferd, das geritten wird. Und reiten werden es im Verlauf des Dramas viele unterschiedliche Gruppen, mit unterschiedlichen Sätteln.

Grossarth schlägt den Bogen von den wichtigsten Entwicklungsstufen in der Landwirtschaft (Mineraldünger, erste chemische Pflanzenschutzmittel, Ausbau der Mechanisierung) zu den ersten Ansatzpunkten ihrer Kritiker. Die Produkte der gesicherten Ernährung werden von diesen früh schon als „vergiftet“ tituliert. Tatsächlich treten nur einzelne „Störfälle“ von Vergiftungen durch Pestizide auf. Ab den 1970er Jahren erreichen schließlich Aktivisten, Journalisten, Publizisten, Wissenschaftler und Politiker mit ihren kritischen Debatten über die Veränderungen in der Landwirtschaft ein Massenpublikum.

Die weiteren vier Akte des Dramas werden „das Gift auf dem Feld im Wandel der Zeit“ beschreiben. Jeder Akt steht für eine zeitliche Epoche, der Aufzug des nächsten Aktes einem „Epochenwechsel“, wie ihn Grossarth definiert hat.

Zweiter Akt (Steigende Handlung): 1949 bis 1962 – Chiffren der NS-Ideologie

Der Wiederaufbau und die Hungerwinter 1945/46 und 1946/47 mit Hundertausenden Toten waren nach der „Stunde Null“ für die deutsche Bevölkerung prägend. Dank des Marshall-Planes begann der industrielle und landwirtschaftliche Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland. Die 1950er Jahre waren „technikfreundlich“ und lieferten daher wenig Anlass zur medialen Kritik an den Methoden der Landwirtschaft zur Bekämpfung des Hungers. Dennoch treten erste Stimmen auf die literarische Bühne, die den Einsatz von Pestiziden als feindlichen Akt gegen die Natur beschreiben.

Grossarth entdeckt viele Autoren und bringt deren ökologische „Gift-Diskurse“ der Nachkriegszeit analytisch auf die Bühne: Wenn Alwin Seifert, Gottfried Büttner, Fritz Eichholtz, Adalbert Schweigart, Thilo Kemper, Herbert Warning, Ralf Bircher, Are Waerland, Günther Schwab sowie Bernhard Grzimek über Leben, Lebendigkeit, Natur, Natürlichkeit biologisch, artgerecht sprechen, meinen sie den Zusammenhang mit Begriffen wie Volk, Seele, Ordnung, auch Göttlichkeit oder deutscher Geist. Vorläufer dieser Worddeutungen sieht er in romantischen, völkischen, lebensreformerischen, vitalistischen, holistischen und – insbesondere entlarvend bei Günther Schwab – auch in nationalsozialistischen Schriften über die Stellung von Mensch und Natur. Die NS-Ideologie lebt in manchem ökologischen Sachbuch sprachlich chiffriert und mit ideologischen Elementen fort. Der Leser gewinnt in diesem Kapitel den Eindruck, dass viele metaphorische Chiffren aus dieser Zeit heute noch im Einsatz sind und zum Vokabular mancher Campaigner gehören: Verjauchung des Wassers („Güllegift“), Atomtod, verseuchte Flüsse, denaturalisierte Lebensmittel, kapitalistische Gift-Clique, Vergiftung der Seelen. Ob man diese alten Pferde noch weiter reiten sollte?

Dritter Akt (Höhepunkt mit Peripetie): 1963 bis 1986 – Rachel Carsons „Silent Spring“

Mit dem Erscheinen des Buches „Stummer Frühling“ von Rachel Carson sieht Jan Grossarth eine entscheidende Schwelle überschritten, die den Übergang von der Natur- und Heimatschutz- zur Umweltbewegung symbolisiert. Unser Drama steuert auf den Höhepunkt zu: die Entwicklung der Umweltschutzbewegung zu einer Massenbewegung, mit Gründung der Partei „Die Grünen“ im letzten Teil dieser Epoche. Carson ist literarisch lange die Hauptdarstellerin in dieser Zeit. Sie verknüpfte erstmals die Pestizide, Dünger, etc. mit Metaphern aus dem Vietnamkrieg. Mit dem Einsatz des Herbizids „Agent Orange“ zur Waldentlaubung verschwimmen die Grenzen zwischen Agrarchemie und chemischen Kriegsmitteln. Kritiker verwenden immer häufiger Metaphern aus dem Krieg, um den „Kampf der Chemie“ gegen die Natur plastisch zu kommunizieren. Grossarth analysiert, wie in diesen Jahren die Bedeutung von Gift-Metaphern als nationale Identitätssymbole und Brandmarkung von Fremdstoffen in den Hintergrund treten. In den Vordergrund treten nun Fragen der Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit der Industriegesellschaft, die mit drastischen Bildern in den Debatten aufgeworfen werden.

Erstmalig spielen auch marxistische Themen wie die Entfremdung der Arbeit des Menschen in der kapitalistischen Industriegesellschaft eine gewichtige Rolle auf der Bühne des agrarpolitischen Diskurses. Die Verstädterung der Gesellschaft und der Strukturwandel in der Landwirtschaft nimmt in dieser Zeit gewaltig zu. Bioläden und alternative Bauernhöfe oder Landkommunen positionieren sich als systemverändernde Kräfte und Symbole der Abkehr von der Konsumgesellschaft. Das Bild eines gestörten Stoffkreislaufes der Erde im Sinne des Blutkreislaufes taucht auf: Der Kohle- und Stickstoffkreislauf von Mensch und Natur seien durch die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und chemisch-synthetischen Dünger gestört. Damit beginnt auch die Debatte um die Klimaerwärmung, die eine ökologische Wende auch zu einer sozialen Frage erklärt.

Als Megathema der 80er-Jahre und Musterbeispiel für „Ökodramatisierungen“ nennt Grossarth das aus heutiger Sicht überschätzte Waldsterben. Schlagzeilen in Magazinen wie dem „Stern: Über allen Gipfeln ist Gift“ und dem Magazin „DER SPIEGEL: Der Wald stirbt“ erregten ein Millionenpublikum. Generell stellt der Autor in vielen Medien schon eine metaphorische Zuspitzung der Debatten fest. Aber noch sind Printmedien, öffentlich-rechtliches TV und Radio die Leitmedien. Der Reaktorunfall von Tschernobyl – ein „Super-GAU“ – stellte 1986 den Höhepunkt der globalen Umweltkatastrophen dar und leitete die nächste Epoche ein. „Die Grünen“, die sich als „Entgiftungs-Partei“ positionierten, werden im Folgejahr mit über 8 Prozent erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt.

Vierter Akt (retardierender Moment): 1987 bis 2000 – Ent-Ideologisierung und Medienwandel

Nach Tschernobyl dauerte es nur noch wenige Jahre, bis das Angst-Thema „Kalter Krieg“ von der Bühne geht. Mit seinem Ende erlosch auch ein Motiv der Friedensbewegung. Grossarth nennt diese Zeit die „Epoche der Vernetzung, Ent-Ideologisierung und Globalisierung“ und arbeitet wieder den historischen Kontext heraus. Ein Medienwandel kommt durch private TV-Sender in Gang, und „Das Gift der Mediendemokratie: Die Sucht nach Stories, Drama oder Spin“ tut seine Wirkung. Grossarth folgert daraus:

„Die Rede von der Vergiftung im ökologischen Kontext dient der Skandalisierung, Dramatisierung und Aufmerksamkeitsgewinnung in einer ab den neunziger Jahren zunehmend quotenfixierten, verbildlichten, oberflächlichen und fragmentierten Medienwelt.“

Zudem sei der Giftbegriff im Zusammenhang mit Metaphern wie „Netzwerk“ nicht mehr ganz zeitgemäß. „Vernetztes Denken“ ist nun das Leitbild: Ohne ökosystemische Zusammenhänge sind Probleme nicht mehr erklärbar. Während der Rhein durch politische Maßnahmen immer sauberer wird, gibt das internationale Klimaschutzabkommen „Rio 1992“ in dieser Zeit Hoffnung, dass die globalen Umweltprobleme durch international vernetzte Kooperation lösbar sind.

Der Zusammenbruch der Ideologie des Sozialismus lässt die Menschen auch nach Ersatzperspektiven, Substitute, suchen: Die Möglichkeit, sich selbst über individuelle Attribute von der Masse abzugrenzen, erscheint am Horizont, ist aber noch kein Massenphänomen. Überhaupt schafft es Grossarth, diese Epoche ziemlich spannend in allen Perspektiven der damaligen Umweltdebatten zu zeichnen. Er bezieht sich in seiner Literaturanalyse auf Schriften von Paul W. Taylor, James Lovelock und Fritjof Capra, sowie auf die – als „Jesus-Apostel“ bezeichneten – Autoren Franz Alt und Leonardo Boff: Deren Metaphern mit eindeutig religiösem Bezug wie „Heilung“, „Gaia“, „Tanz ums ölige Kalb“ bringen Umweltbewegung und Kirchen sprachlich auf eine Wellenlänge. Mit dem Auftritt von Rudolf Bahro und seiner Schriften in dieser Epoche erscheinen allerdings wieder Anlehnungen an Ideen der Nationalsozialisten wie ein Geist auf der Bühne. Bahros gesellschaftliches Konzept nennt Grossarth „eine Öko-Diktatur feudalistischer Prägung“, propagandistisch gut eingepackt in absoluten Metaphern wie „Gefangenheit und Rettung“, „Krankheit und Heilung“. Einem noch radikaleren Co-Autor von Alt und Bahro, Marco Ferst, attestiert er als erster den Begriff „Zeitenwende“ – auch bezogen auf die Landwirtschaft und der „Agrarwende“ – in die Debatte eingeführt zu haben.

Fünfter Akt (Katastrophe): Ab 2001 herrscht Dauerkrise für die Landwirtschaft

Die Zeit ab 2001 bis zur Gegenwart des Buches 2018 fasst Jan Grossarth in einem Kapitel zusammen. In diese Epoche fallen sein Abitur, das Studium der Volkswirtschaftslehre und seine gesamte berufliche Laufbahn. Es dürfte somit also die ihn persönlich prägendste Zeit sein und er hat sie nicht nur durch Literaturrecherche wahrgenommen. Und ebenso verdichtet sind nun seine Schilderungen des Dramas einer überhitzten agrarpolitischen Debatte, die durch die BSE-Krise den bisher stärksten Impuls erhält und die Agrarkommunikation nicht mehr aus dem Krisenmodus herauskommen lässt. Fleisch wird in der medialen Hysterie zum „Mordmittel“, die Futtermittelindustrie zur „mörderischen Rotte“. Zugleich stellt Grossarth aber fest, dass zwar in der Dekade 1999-2008 so viele Zeitungen mit dem Wort „Gift“ titeln wie nie zuvor, aber immer weniger gehaltvolle Artikel zu finden seien, ja eine Verflachung des Journalismus zu beklagen sei: „Das Gift ist zu einem billigen Modewort der Konsum- und Industriekritik geworden, zum marktkonformen Werbemittel der Verlage.“ Ab 2011 verlieren die NGOs durch den Atomausstieg ihr zentrales Kampagnenthema. Nun drehen vollzeitbeschäftigte Campaigner die Landwirtschaft und deren Industrialisierung durch die Mangel. Die Debatte wechselt zwischen Systemkritik und Moraldiskurs, da auch tierethische Aspekte mehr und mehr in die Debatte einfließen.

Zeitgleich nutzen immer mehr Menschen Soziale Medien (Facebook, Twitter u.a.) in Deutschland und ein weiterer Medienwandel lässt den Kampf um Aufmerksamkeit der Leser mit allen Mitteln eskalieren: Für Jan Grossarth sind viele „giftige“ Schlagzeilen und Berichte in diesem Medienumfeld nur noch „außerordentlich flachwurzelnde Fälle für hermeneutisch-historische Tiefenbohrungen.“

Auf der Bühne des Dramas des agrarpolitischen Diskurses drängeln sich immer mehr (Selbst-?) Darsteller: Renate Künast wird erste Bundeslandwirtschaftsministerin der Grünen, nachdem Karl-Heinz Funke wegen des BSE-Skandals zurücktreten muss. Die „Störfälle“ der Agrarwirtschaft geben ihren Kritikern immer mehr Nahrung, zudem nun auch CO2 als „Klimagift“ immer mehr der Landwirtschaft angelastet wird. Grossarth nennt weitere Personen, deren „Gesang“ nun den Chor der Kritiker mit teils drastischen Metaphern laut erklingen lässt: Hans Joachim Schellnhuber, Hans Ulrich Grimm, Tanja Busse, Thilo Bode, Christian Meyer, Stéphane Hessel, Johannes Remmel, Harald Welzer u.v.m. Auffällig ist nun, dass höchste Agrarminister nun zusammen mit eher im Hintergrund wirkenden Autoren in Grossarths sprachwissenschaftlicher Analyse auftauchen. Die Tweets und Pressemitteilungen der einen erreichen jetzt mehr Aufmerksamkeit als die Bücher der anderen.

Während die EU-Zulassung des Pestizids Glyphosat 2002 in der Amtszeit von Renate Künast als Bundeslandwirtschaftsministerin medial geräuschlos vonstatten ging, startet ab 2015 eine Kampagne gegen dasselbe „Merkelgift“ (Harald Ebner, MdB Die Grünen), was Grossarth als „Renaissance des Giftwortes“ bezeichnet. Seither überbieten sich die Teilnehmenden im Kampf um die Aufmerksamkeit mit quasi giftdurchtränkten Schlagzeilen „Ackergifte“, „Bienengifte“. Der Biobauer wird zum Heilsbringer und zum Vorbild der Gemeinwohlorientierung für die „Postwachstumsbewegung“, deren Entstehen er nach der Finanzkrise 2008 datiert.

Die agrarpolitische Debatte geht aber heute immer weiter – so sind die Schlussfolgerungen der Arbeit eher eine Zwischenbilanz, denn ein Finale, sprich: Es herrscht weiterer Forschungsbedarf!

Epilog – Schluss

Jan Grossarth hat mit seiner Dissertation nicht nur eine sprachwissenschaftliche Analyse erstellt, sondern auch eine präzise Dokumentation der historischen und aktuellen gesellschafts- und agrarpolitischen Debatte gesetzt. Er analysiert in seinem Fazit mehrdimensional die agrarökologische Vergiftungssemantik und deren Wurzeln sowie deren verheerende Wirkung auf die politischen Gegner:

„Den Gegner oder Feind als Gift zu brandmarken, stellt eine hohe Stufe der verbalen Eskalation in der Tradition der Schmähung und Stigmatisierung dar. Sie bereitet dessen Überwachung, Kontrolle, Ausgrenzung oder sogar Tötung rhetorisch vor und ist daher ein sprachliches Werkzeug des Diskursausschlusses.“

Diesen Satz würden heute sicherlich viele Landwirte unterschreiben, die das Gefühl haben, dass man nur noch über sie redet – oft sogar beschimpft, aber nicht mehr mit ihnen redet. Zudem zeigt Grossarth auch, dass es genug andere politische Metaphern gibt, als die der Vergiftung.

Die Bedeutung des Begriffes „Gift“ in den politischen Debatten strukturiert er in vier Kategorien:

  1. Gift als Waffe: Die Gleichzeitigkeit der Erfindung der chemischen Kampfstoffe und erster chemisch synthetisierter Düngemittel vor Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur atomaren Bedrohung des Kalten Krieges dienen als Hintergrund-Resonanzboden.
  2. Gift des verkehrten Glaubens: Vom christlichen, anthroposophischen Glauben zur „ökopolitischen“ Ideologie – hier ist Gift das Symbol für Untugend und das Böse an sich.
  3. Die Innenweltvergiftung: Linke Kulturkritik bezieht die Vergiftung auf die Lebensqualität der Menschen, die in ihrer modernen Arbeitswelt kein Glück finden können.
  4. Gift als Schlagzeile in der Mediendemokratie: „Gift“ wird als billiges Reizwort zum Generieren von Auflage und Klicks mit dem Ziel der Aufmerksamkeitsgewinnung eingesetzt. Der Medienwandel lässt fachliche Tiefen in den Begründungen immer mehr vermissen.

Mein persönliches Fazit

Grossarths Studie liest sich für Befürworter der sogenannten „konventionellen Landwirtschaft“ wie die Reisebeschreibung eines Höllentrips. Je mehr aus Sicht der Agrarbranche durch Fortschritte bei Düngung und Pflanzenschutz die Ernährung der Gesellschaft gesichert wurde, desto lauter wurden die Stimmen ihrer Kritiker. Grossarth ist in seinem Buch selbst kritisch, er bezieht klar Stellung und sieht die Agrarbranche gefordert, viele der ihr vorgeworfenen Probleme zu lösen: Den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren, den Artenschutz und die Tierhaltung zu verbessern. Mit seiner Arbeit analysiert er präzise, welche literarischen Gift-Narrative der vergangenen Jahrzehnte nur Mythen sind: die „braune“ Ernährungslehre der 50er-Jahre, Autoren aus vitalistischen und religiösen Alternativkulturen Ende der 70er, New Age-Esoteriker der 80er, sowie nach 2008 das Narrativ einer Ökowende als Heilsprojekt – das er eher als ein latent totalitäres planwirtschaftliches Projekt demaskiert.

In der Metaphorik von Rachel Carson sieht Grossarth jedoch die ökologische Krise als Tragödie beschrieben, ohne dass es einen arglistigen und eindeutigen Schuldigen gibt. Neben der amerikanischen kulturkritischen Umweltbewegung findet er viele weitere Autoren, die mit ihren Schriften nicht ideologisch-heilssuchend oder feindbild-fixiert auf gravierende globale Probleme aufmerksam machen, die mit der „Agrarchemisierung“ einhergingen.

So nüchtern und wissenschaftlich Grossarths Analyse mit ihren über 500 Seiten ist, so dramatisch ist die Situation durch die omnipräsente Verwendung der Gift-Metaphern in Schlagzeilen inzwischen auf den landwirtschaftlichen Betrieben, in den Bauernfamilien: Die in der Debatte über Glyphosat medial hochgedrehten Kampagnen gegen die „agrarindustrielle Landwirtschaft“ haben insbesondere im Gefecht auf Sozialen Medien eine weitaus größere Durchschlagskraft entwickelt als es TV und die alten Printmedien jemals erreichten. Die Mechanismen dieser Plattformen radikalisieren die Befürworter und Gegner schneller als überhaupt die Begriffe „Agrarindustrie“ und „Massentierhaltung“ exakt definiert sind. Wer als Landwirt seine Ackerfrüchte vor Insektenfraß schützen will und gesetzlich zugelassene Pestizide einsetzen möchte, riskiert heute auf dem Feldweg als „Giftspritzer“ beschimpft zu werden – selbst wenn er ein Biobauer ist und gerade das (bienengiftige) Spinosad als Insektizid einsetzen möchte und dürfte. Das medial ständig polierte Heiligenstandbild des Biobauers stellt alle konventionellen Landwirte in den gesellschaftlichen Schatten und vor mancher TV-Kamera gar vor die (Glaubens-)Frage: „Warum machen Sie das nicht auch?“ Zudem sind die Unterschiede innerhalb verschiedener Bio-Siegel in Bezug auf Gifteinsatz von EU-Biosiegel bis Demeter-Bio groß – sie werden aber nicht diskutiert.

Für Psychologe und Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun ist Kommunikation – ob mit Metaphern oder ohne – vielschichtig und hat vier Aspekte, unter denen sie betrachtet werden sollte: Sachebene, Selbstoffenbarung, Beziehung und Appell. In der politischen Kommunikation sollte niemand diese Aspekte außeracht lassen: keine Schlagzeile, keine plakativen Posts und Plakate wirken nur auf der Ebene eines Appells. Sie zeigen auch, wenn jemand die Sachebene verlässt, welche Eigenschaften er von sich selbst damit preisgibt und ob ihm an einer Beziehung zu seinem politischen Gegenspieler überhaupt etwas liegt. Die Kommunikation zwischen Stadt und Land ist auf diesen Ebenen inzwischen enorm gestört: Die Faktenlage wird unterschiedlich eingeschätzt, für Landwirte ist es ein Unding, dass sich jemand über ihre Arbeit äußert, der fachlich keine Qualifikation hat, und wenn man die Diskussionen in Sozialen Medien sieht, kann man daran zweifeln, ob die Beteiligten überhaupt noch ein Interesse haben, miteinander als Lieferant und Kunde in Beziehung zu stehen.

Sicher braucht ein politischer Diskurs passende und begründete Metaphern, um ein politisches Handeln einzufordern. Und sicherlich haben in der Vergangenheit manche Debatten dadurch zu wichtigen Verbesserungen im Umweltschutz geführt.

Doch für das mediale Wortgefecht in unserer Epoche ist das Schlagwort „Gift“ zum verbalen Schlagstock auf eine dämonisierte „Agrarindustrie“ geworden. Das mediale Kräfteverhältnis zwischen NGOs und Politik ist spätestens durch das Aufkommen der Sozialen Medien gekippt: Aus überspitzt eingesetzten Metaphern in Schlagzeilen und Plakaten werden verbale stigmatisierende Waffen gegen die Menschen auf den Höfen – und sie wirken nicht nur als politischer Appell.

Der Protagonist – um den es in der Debatte geht – bleibt in der gesellschaftlichen Debatte relativ stumm und damit wehrlos: Die Sprache der konventionellen Landwirtschaft, ja der gesamten Agrarbranche ist im agrarpolitischen Diskurs in ihrer Fachlichkeit gefangen: Sie schafft es nicht, mit Begriffen wie „Effektivität“, „Nachhaltigkeit“, „heimische“ oder „moderne Landwirtschaft“ gegen die Wucht der Metaphern ihrer Kritiker anzukommen. Ja, man hat sich noch nicht mal auf eine gemeinsame Sprache geeinigt. Bildhaft sind zwar manche Plakatkampagnen und die Werbung für ihre Produkte, aber diese treffen inhaltlich meist voll daneben, weil sie falsche metaphorische Hintergründe bedienen und damit den Landwirten wieder auf die Füße fallen (Schweine auf der grünen Wiese, Menschen mit Geflügelköpfen). Statt falsch aufgesetzter Image-Kampagnen müsste die konventionelle Landwirtschaft nicht unbedingt mehr authentische Bilder aus dem Alltag liefern, sondern gerade ihre sprachlichen Botschaften möglichst metaphorisch treffsicher verpacken, um damit ihre Komplexität zu reduzieren und bildhaft und argumentativ um ihre Berechtigung kämpfen, wenn sie es denn noch wollte. Um nicht mehr als das geht es nämlich: Sagen, was ist.

Erhältlich im Campus-Verlag, 39,95 €


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Comments

4 Antworten zu „Die Vergiftung einer Debatte – eine Rezension in fünf Akten”.

  1. Martin Körner

    Danke für diese ausführliche Rezension.

  2. Klaus Minkel

    Hochinteressant, allerdings für Nichtakademiker schwer lesbar. Lieber Rainer Winter, gerade jetzt wo alle Bauern endlich mal gemeinsam demonstrieren wäre eine Zusammenfassung „für den schnellen nicht vorgebildeten Leser“ hilfreich. Wir Bauern leiden unter dieser Vergiftung.

    1. Hallo Klaus,
      deinen Wunsch kann ich verstehen. Wer es kurz und knapp mag, der beschränkt sich auf mein Fazit.
      Hier kann man einige Fremdwörter nachschlagen:
      https://de.wikipedia.org/wiki/Narrativ_(Sozialwissenschaften)
      https://de.wikipedia.org/wiki/Metapher
      https://de.wikipedia.org/wiki/Vitalismus
      https://de.wikipedia.org/wiki/Ubiquit%C3%A4t
      https://de.wikipedia.org/wiki/Ideologie
      https://de.wikipedia.org/wiki/Stigmatisierung
      https://de.wikipedia.org/wiki/Protagonist

      Leider ist die Kommunikation der neu entstandenen Bewegung „Land schafft Verbindung“ auch nicht für die angesprochenen Zielgruppen verständlich – zumal gerade wieder zwei Fraktionen der Bewegung existieren.
      https://landschafftverbindung.org/
      https://landschafftverbindung.de/was-uns-antreibt/

      Es gäbe manche Möglichkeit, wie die Agrarbranche aus der Sackgasse käme, aber bisher beschränkt man sich auf Eitelkeiten und zersplitterte Aktivitäten.

  3. Danke für den ausführlichen und guten Artikel!

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